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Der Riese wacht auf

hier ein lesenswerter Arztikel zum Jubiläum Brasilias aus Die Welt vom 22.04.10

Leitartikel: Brasilien entwickelt sich zur Führungsmacht

Von Hildegard Stausberg

„Es ist genau 50 Jahre her, da erklärte ein Mann mit dem überhaupt nicht portugiesisch klingenden Namen Kubitschek ein kleines Nest irgendwo im menschenleeren Herzen Brasiliens offiziell zur neuen Hauptstadt. Das Land war damals schon das größte Land des lateinamerikanischen Subkontinents, aber es lag dennoch unendlich weit entfernt von seinen Spanisch sprechenden Nachbarländern. Mit Brasilia wollte der damalige Präsident Juscelino Kubitschek den bis dahin von der Küstenstadt Rio de Janeiro aus regiertem Koloss mehr ins Zentrum rücken.

Unter dem Wahlslogan „Fünfzig Jahre Fortschritt in fünf Jahren“ hatte der Sohn einer Tschechin dem schlafenden Riesen bei seinem Regierungsantritt 1956 eine Modernisierungskur verordnet. Ein halbes Jahrhundert später kann sich die Bilanz sehen lassen: Das fünftgrößte Land der Erde ist im Kreis der Führungsmächte angekommen. Es gehört mit der Gruppe der sogenannten BRIC-Staaten – Brasilien, Russland, Indien und China – einem Gremium an, das für 40 Prozent der Weltbevölkerung spricht und wachsendes Selbstbewusstsein an den Tag legt. Daran hat es gerade den Brasilianern eigentlich nie gemangelt. Aber die Häufigkeit politischer Krisen, wirtschaftlicher Instabilität und vor allem einer immer wiederkehrenden Inflation machten früher nur allzu oft Neuansätze zu kurzfristigen Strohfeuern.

Dass sich dies ändern konnte, ist dem Wirken zweier Präsidenten zu danken: Fernando Henrique Cardoso und seinem Nachfolger Luiz Inácio Lula da Silva. Der Erste, ein konservativer Sozialdemokrat, legte noch als Finanzminister vor mehr als 15 Jahren die Grundlagen für die wirtschaftliche Stabilisierung durch eine konsequente Antiinflationspolitik und Auflagen für die interne Verschuldung. Der frühere Sozialist Lula wiederum hielt den Reformkurs bei und bescherte ihm durch eine konsequente Förderung der unteren Bevölkerungsschichten eine breitere Akzeptanz.

Die Tatsache, dass das politische Brasilia von immer neuen Korruptionsfällen erschüttert wird, ist dabei übrigens keine Schwäche, sondern beweist die Stärke der brasilianischen Zivilgesellschaft, vor allem auch die Existenz einer kritischen Presse, die sich – anders als in Venezuela, Kuba oder Bolivien – ungehindert äußern kann: Weit vor Indien hat Brasilien die freieste Presse unter allen BRIC-Staaten. Nicht zuletzt deshalb ist die Korruption dort auch geringer als in Russland oder gar China. Und auf jeden Fall gibt es in Brasilien mehr Rechtssicherheit als dort: Ein Investitionsvorteil, der bei aller China-Euphorie nicht unterschätzt werden sollte.

Gleichzeitig verstören Bilder von in den reißenden Regenfluten versinkenden Elendsvierteln der Touristenmetropole Rio. Die katastrophale Lage in vielen Favelas um die großen Städte herum ist mehr als ein Schandfleck: Es ist die schwärende Wunde der reichsten Nation Lateinamerikas. Das Land hat es aber in den zurückliegenden fünf Jahren dennoch geschafft, den Anteil der Mittelschicht an der Bevölkerung von 34 auf 51 Prozent zu heben. Die internationale Finanzkrise hat es besser überstanden als manch „alte“ Industrienation, und es zeigt längst wieder robuste Wachstumsraten – in diesem Jahr sind es geschätzte fünf Prozent.

Skepsis hingegen provoziert der außenpolitische Führungsanspruch Präsident Lulas. Er versucht, diesem durch lange Reisen rund um den Globus ein Gesicht zu verleihen. Dabei beharrt er auf der Verteidigung von Ahmadinedschad, während es ihm gleichzeitig nicht gelingt, Venezuelas gewählten Diktator Hugo Chávez am Aufbau eines linkspopulistischen Satrapenbündnisses um Brasilien herum zu hindern. Völlig unglaubwürdig wird Lula, wenn er, dem unter der brasilianischen Militärdiktatur die Solidarität seiner westlichen Gewerkschaftskollegen zuteilwurde, nicht den Mut findet, sich öffentlich zur Einhaltung der Menschenrechte zu bekennen.

Nun hat Lula mit Washington ein Abkommen über eine militärische Zusammenarbeit unterzeichnet – angesichts wachsender sicherheitspolitischer Probleme eine vernünftige Entscheidung. Aber eine ähnliche Vereinbarung der Amerikaner mit Bogotá hat sein Außenminister Amorim kritisiert. Das schafft kein Vertrauen in der Region. Es macht den Nachbarn aber klar: Die Großmacht Brasilien spielt längst in einer anderen Liga. Der brasilianische Politikwissenschaftler Roberto Mangabeira Unger behauptete einmal, die historische Bestimmung Brasiliens bestünde darin, eine Synthese herzustellen aus Freundlichkeit und Größe. Da bleibt noch viel zu tun.“
Quelle: Die Welt 22.04.2010

Ein Kommentar zu “Der Riese wacht auf

  1. Brazil Support

    Zuerst möchte ich an dieser Stelle kurz eine Ergänzung zu Frau Stausbergs Schilderung der Gründung Brasílias anbringen: Der damalige Präsident Kubitschek hatte kein “kleines Nest” zur Hauptstadt erklärt” – vielmehr wurde die Stadt, nach sorgfältiger Planung auf dem Reissbrett, in 41 Monaten auf dem „Planalto Central“ – einer damals menschenleeren Hochebene – von 30.000 Arbeitern ab 1956 erbaut und am 21. April 1960 eingeweiht. Von Brasília aus (1.200km von der Küste entfernt) wollte man das Innere des Riesenlandes besser erschliessen können. Im Jahr ihrer Einweihung zählte die neue Hauptstadt bereits 150.000 Einwohner – hauptsächlich von Rio de Janeiro herbeorderte Staatsbeamte. Im Lauf von 30 Jahren erreichte Brasília eine Zahl von 1,7 Millionen Einwohnern, eine der höchsten demografischen Wachstumsraten des Landes, und heute leben in dem nur 5.822 km2 grossen Distrikt rund 2,5 Millionen Menschen.

    Weitherhin möchte ich den Ausführungen der Autorin meine Anerkennung aussprechen – auch die Schwächen von Brasiliens scheidendem Staatpräsidenten Lula hat sie gut erkannt. Am besten gefällt mir der Satz : “auf jeden Fall gibt es in Brasilien mehr Rechtssicherheit als dort (Russland oder China) – ein Investitionsvorteil, der bei aller China-Euphorie nicht unterschätzt werden sollte” (Zitat-Ende)
    Ich lebe seit 35 Jahren in Brasilien und arbeite als Anlageberater für ausländische Investoren. Seit wir hier sind, hat die Wirtschaft dieses Landes trotz seiner zahlreichen Probleme stetig zugelegt – die weltweite Finanzkrise haben die Brasilianer sogar besser überstanden als manche Europäer – der brasilianische Immobilienmarkt hat 2009 sogar geboomt. Inzwischen haben auch zögerliche Investoren erkannt, dass für eine Investition in Brasilien die Situation nie günstiger gewesen ist.
    Viele Grüsse
    KDG

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